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Erwachsenwerden - Verlust der Kindheit?

Hausarbeit für das Seminar
"Psychoanalyse und Erziehung IV: Psychoanalytische
Entwicklungspsychologie - Pubertät, Adoleszenz,
Erwachsenenalter"

Leitung: Annegret Overbeck

vorgelegt von:
Martin Steigerwald


14. Februar 1995

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Definition von Kindheit
    1. Zeitliche Definition
    2. Qualitative Definition
  3. Erwachsenwerden - Verlust der Kindheit?
  4. Was bedeutet das für das Kind?
  5. Die Kindheit wiederfinden
  6. Stellungnahme
  7. Noch ein paar Anmerkungen
  8. Danksagung
  9. Ein paar Gedichte von mir
  10. Literatur

1. Einleitung

Mein innerer Dialog mit den Inhalten der Parzival-Erzählung "Der rote Ritter" von Adolf Muschg während eines Seminars über Adoleszenz und Entwicklung von Frau Overbeck, brachte mich auf die Idee, mich mit dem Erwachsenwerden zu beschäftigen.

Parzival verliert allmählich, während er die Welt der Worte kennenlernt, die Welt vor den Worten, die Welt, in der alles funktioniert, ohne daß man sich groß Gedanken darüber machen muß, die Welt des Schauens, des Horchens und des Staunens, die Welt der Kindheit. Als ich diese Entwicklung bei Parzival verfolgte, merkte ich in mir Betroffenheit und gleichzeitig Widerspruch, das starke Gefühl, daß ich mich als Kind noch nicht verloren habe.

Und ich wollte mehr darüber herausfinden, ob die Kindheit während des Erwachsenwerdens verloren geht, und wenn ja, durch welche Prozesse dies geschieht und inwiefern das Verlieren der Kindheit zwangsläufig den Weg des Kindes zum Erwachsenen charakterisiert. Oder anders gefragt, ob man das Verlieren der Kindheit, falls es geschieht, hilflos hinnehmen muß.

Um herausfinden zu können, ob die Kindheit beim Erwachsenwerden verlorengeht, versuche ich zunächst eine Definition von Kindheit...

2. Definition von Kindheit

Zunächst werde ich den Zeitraum der Kindheit näher festlegen. Dann werde ich eine qualitative, bedürfnisorientierte Definition der Kindheit versuchen.

2.1. Zeitliche Definition

Die meines Erachtens schönste zeitliche Definition von Kindheit habe ich der Brockhaus Enzlykopädie von 1970 gefunden, allerdings unter dem Stichwort Kind, nicht unter Kindheit: "Kind, der Mensch von seiner Geburt bis zur beginnenden Reife." (S. 157, Kat-Kz)

Im Neuen Duden Lexikon steht unter Kind: "... der Mensch in der Alters- und Entwicklungsphase der Kindheit" (S. 2036, Hock-Krap). Was unter Kindheit verstanden wird, war dem Lexikon dann leider nicht mehr zu entnehmen.

Der Schülerduden Psychologie läßt das Kindsein dagegen mit der Erlangung der Geschlechtsreife enden (S. 173).

Adolf Muschg sieht noch eine andere Grenze zwischen Kind und Erwachsenem. Er sieht das Ende der Kindheit zeitgleich mit dem Erlernen der Sprache:

Ganz anders, wenn uns jemand von seiner Kindheit erzählt. Sie ist nicht erzählbar - und doch muß er von Glück reden, ob er will oder nicht. Und im selben Moment redet er der Trennung vom Glück, dem Abschied von der Kindheit das Wort. [...]

Denn als ihr lerntet, Worte zu machen, nahmt ihr zugleich Abschied von einer Welt diesseits der Worte. (S. 270)

Die Philosophie, die dahinter steckt, ist: Man weiß erst, was man hatte, wenn man es verloren hat. Oder: Man könne das Paradies - die Kindheit - nicht als solches wahrnehmen, wenn man nicht schon die "Hölle" kennt, den Bruch in der Welt erfahren hat (vgl. Steigerwald, Skript Psychoanalyse und Erziehung 4, S. 1).

2.2. Qualitative Definition

Nun zu qualitativen Aspekten: Was macht die Kindheit eigentlich aus?

Ich denke die Kindheit, das Kindsein bedürfnisorientiert zu definieren, hilft zu verstehen, was die Kindheit ausmacht. Möglicherweise wird der ein oder andere Leser feststellen, daß er auch, wenn er erwachsen ist, oder sich als Erwachsener fühlt, solche kindlichen Bedürfnisse in sich verspürt. Das ist auch der Weg, den ich gehe, um kindliche Bedürfnisse herauszufinden, abgesehen davon, daß kindliche Bedürfnisse auch schon oft zum Gegenstand von Literatur wurden (z.B. Alice Miller, Adolf Muschg).

Was braucht also ein Kind? Es braucht Liebe, am wichtigsten dabei wohl die Liebe der Eltern. Es will spielen und seine eigenen Gefühle zeigen dürfen. Es will anerkannt, in einer dialogischen Beziehung wiedergespiegelt und bestärkt werden. Es will Raum haben für seine Kreativität und seine Fantasie. Es will schauen und horchen und staunen dürfen. Es braucht Echtheit im Umgang mit ihm. Es will seinen Zorn, seine Wut und seine Trauer zeigen, wenn ihm weh getan wurde. Und es will weinen dürfen, wenn es weinen muß.

Dabei ist es auch wichtig, auf den Primär- und Sekundärprozeß einzugehen. Das Kind kennt zunächst nur den Primärprozeß, es versucht alles zu einer Ganzheit zusammenzufügen, und ist mit sich selbst eins. Und es weiß dabei - laut Adolf Muschg - von seiner Ganzheit nichts, weil es sie immer hatte und etwas anderes gar nicht kennt: "Was ist von einer Kindheit Königlicheres zu berichten, als daß man von ihr gar nichts zu wissen brauchte? Man war inmitten und es war gut." (S. 255)

Die Welt ist für das Kind ohne Widersprüche, alles paßt zusammen, und wenn etwas wirklich nicht reinpaßt, wird es zum Wohl des Ganzen außen vor gelassen: "Nichts war unfreundlich, auch das unangenehme nicht, denn es ging bald vorüber und immer unter Lachen." (Muschg, S. 255)

Hier ist also ein Kriterium, was das Kind eindeutig vom Erwachsenen unterscheidet, vorausgesetzt, man akzeptiert, daß Erwachsene diese Ganzheit nicht mehr haben.

Das Kind kennt zunächst auch keine Pflichten und es muß keine Sachen tun, die für es unangenehm sind. Die Welt funktioniert, ohne daß es irgendetwas dazu tun muß.

3. Erwachsenwerden - Verlust der Kindheit?

Erst mit dem Lernen der Sprache - wenn das Kind seine Ganzheit verliert - lernt es auch den Sekundärprozeß kennen, bei dem es darum geht, zu vergleichen, zu unterscheiden und logische Schlüsse zu ziehen, bei dem es darum geht, den Riß in der Welt wahrzunehmen, Widersprüche zu sehen und zu ertragen.

Es nimmt dann schmerzlich war, daß es seine Ganzheit verloren hat. Und es nimmt auch wahr, und das mit zunehmenden Alter, daß in der Welt doch nicht alles so von selbst läuft, wie es sich das früher dachte.

Gerade heute, beginnt dieser Prozeß beim Kinde meines Erachtens sehr früh und vielleicht sogar zu früh. Die Familie des Kindes kann dem Kind nur noch eingeschränkte Geborgenheit geben, wenn dem Kind klar wird, daß die Familie es nicht vor allen Gefahren - man denke zum Beispiel an die fortschreitende Umweltzerstörung oder den steigenden Einfluß der Medien - wirksam schützen kann.

Zunächst war alles noch "voll Liebe, und auch diese hatte keinen Namen, denn es gab nichts außerdem, oder nie lange" (Muschg, S. 255), dann aber kam die Welt der Worte. Worte kamen, um zu beschreiben, was man verloren hatte: "Denn als ihr lerntet, Worte zu machen, nahmt ihr zugleich Abschied von einer Welt diesseits der Worte." (S. 270)

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Welt vor den Worten wirklich verloren geht. Aber auf jeden Fall ist sie nicht mehr allein da, oder nie lange, denn die Worte wird das Kind nie wieder los. Ich denke, daß beim Malen, beim Spielen oder beim Träumen diese wortlose Welt für eine bestimmte Zeit wiederkehren kann, und die Sprache, der Sekundärprozeß dabei dann auch in den Hintergrund tritt, jedoch nur für eine gewisse Zeit. Auch durch Meditation kann meines Erachtens der Primärprozeß gefördert werden.

Aber ich denke, man muß sich schon der Tatsache stellen, daß die Welt, wenn man erst einmal erkannt hat, wie widersprüchlich sie doch ist oder sein kann, nie wieder eine Welt ohne Widersprüche sein kann, oder zumindest nie lange.

Man wird den Sekundärprozeß, wenn man ihn einmal hat, nicht mehr los. Es gibt nie mehr auf Dauer eine ganzheitliche Welt, nie mehr auf Dauer die Perspektive nur des Primärprozesses. Und wenn es so aussieht, daß der Primärprozeß die Welt der Widersprüche mal wieder zu einer Ganzheit vereinen konnte, so macht doch fast im gleichen Augenblick der Sekundärprozeß dieses ganzheitliche Kunstwerk durch Auffinden von Widersprüchen kaputt.

Das Erlernen der Sprache bedeutet für mich auch, mich in einer ganz anderen Weise nochmal mir selbst bewußt zu werden. Ich kann nun die Tatsache, daß ich existiere, was ja an sich schon ungeheuerlich ist, auch noch in Worte fassen. Wenn man sich seiner eigenen Existenz bewußt wird, so ist das ja auch schon mal ein Riesenschritt, der sicherlich auch seine Bedeutung beim Erwachsenwerden hat. Aber wenn man dann auch sagen kann, "Ich bin da!", dann eröffnet das meines Erachtens noch ganz andere Dimensionen.

Ich denke auch, daß es noch andere Faktoren gibt, die bei der Frage, ob das Erwachsenwerden den Verlust der Kindheit bedeutet, eine wesentliche Rolle spielen. Mir widerstrebt es, das Verlieren der Kindheit nur am Erlernen der Sprache festzumachen. Und ich denke, so eng sieht Adolf Muschg das auch nicht. Ich denke Muschg hat auch Prozesse im Kopf, die mit dem Erlernen der Sprache zusammenhängen oder zusammenfallen:

Sie [die Welt diesseits der Worte, s.o.] war von der Wahrheit, die euch die Großen zu sagen anhielten, so ungeheuer entfernt, daß ihr lernen mußtet zu lügen. So habt ihr die Worte kennengelernt: als Wahrheit der anderen, die Macht besaßen über euch. Um ihnen zu gefallen, um ihnen zu gleichen, mußtet ihr vergessen, wie wenig das, was ihr ihnen gegeben habt, das war, was sie zu verlangen schienen: die ganze Wahrheit. (S. 270)

Mir fällt, wenn ich über dieses Zitat nachdenke, die Erziehung des Kindes ein. Wenn ein Kind verständnisvolle Eltern hat, die ihm erlauben, seinen Bedürfnissen nachzugehen, dann kann ich mir denken, daß dieses Kind in der Lage ist, sich eine ganze Menge von der Kindheit zu erhalten.

Ein Kind aber, das z.B. seine Gefühle den Eltern gegenüber nicht ausdrücken darf, wird meines Erachtens sehr schnell erwachsen. Worauf ich dabei hinaus will, ist die Frage, inwiefern das Verlieren der Kindheit zwangsläufig passiert, oder durch die Erziehung und die Einstellung zu Kindern in unserer Gesellschaft vorprogrammiert ist. Oder anders ausgedrückt, inwiefern die Eltern und die Gesellschaft in der Lage sind, das Kind Kind sein zu lassen.

Aber auch bei der Erziehung des Kindes gibt es Sachen, die sich einfach nicht vermeiden lassen, die aber möglicherweise mit dem Verlust der Kindheit in Zusammenhang stehen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, dem Kind klar zu machen, daß es Pflichten hat, denen es nachkommen muß.

Auch kann man nicht darauf verzichten dem Kind lesen beizubringen, zumindest nicht in unserer Gesellschaftsform. Aber es kommt darauf an, wie man dem Kind das klar macht, ob man es zwingt oder argumentiert und es notfalls die Erfahrung machen läßt, daß es ohne Lesen nicht zurecht kommt in dieser Welt.

Dabei machte ich vor kurzem die Erfahrung, wie schwierig es sein kann, einem Kind das Lesen beizubringen und das Kind dabei Kind sein zu lassen. Während meines Praktikum im Taunusheim, einem Kinderheim der Stadt Frankfurt, traf ich auf einen Jungen, der die erste Klasse zum dritten Mal wiederholte und immer noch nicht richtig lesen konnte.

Bei einer Situation, in der er mit einer anderen Erzieherin nicht mehr lesen wollte und den Tränen nahe war, kam er dann auf mich zu und wollte mit mir lesen. Ich übte dann mit ihm die Buchstaben und hatte das Gefühl, seine Schwierigkeiten mit dem Lesenlernen hatten ganz stark etwas damit zu tun, daß er sich sperrte gegen das Lesen und das Lesenlernen.

Ich fragte ihn bei einer Gelegenheit auch, ob er sich denn bereit fühle, lesen zu lernen. Er verneinte dies, bejahte aber die Frage, ob er denn lesen lernen wolle.

Und er äußerte, bei seiner Mutter würde er auch lesen lernen. Ich spürte, er hatte Heimweh, und dennoch - so sehr ich seine Traurigkeit und sein Heimweh nach seiner Mutter, die er lange nicht mehr gesehen hatte, auch verstand - mußte ich ihm klar machen, daß er lesen lernen muß und daß er auch Lernen kann, wenn er traurig ist. Denn ich wußte, er muß lesen lernen, wenn er sich später im Leben zurecht finden will.

Dennoch konnte ich ihn nicht dazu zwingen, und wollte das auch gar nicht. Ich konnte nur so lange mit ihm lernen, bis ich ihn durch Argumente und Zureden absolut nicht mehr motivieren konnte. Ich war mir auch nicht sicher, ob es in seiner Situation nicht wirklich zu früh zum Lesenlernen war.

Nun kann man das Lesenlernen wohl wirklich nicht vermeiden. Die Frage wäre nur, ob sich das nicht anders - kinderfreundlicher - gestalten läßt. Ob man dem Kind vermitteln kann, wie schön es sein kann, lesen zu können, wieviel Spaß man beim Lesen haben kann.

Ein weiterer tiefer Einschnitt in die Geschichte des Kindes beginnt wohl auch, wenn das Kind zum ersten Mal in die Schule muß.

Konnte es vorher sich noch einen schönen Vogel einfach nur so anschauen, so wird ihm jetzt beigebracht, den Vogel, für den das Kind, eine Zeit lang gar kein Wort, gar keinen Begriff hatte und auch nicht brauchte, intellektuell zu erfassen und in seine Bestandteile zu zerlegen.

Konnte das Kind vorher noch so ziemlich das machen, was es wollte, so muß es jetzt jeden Tag in die Schule gehen, ob es will oder nicht. Das Kind wird gar nicht gefragt, und bekommt die Macht der Eltern dann zu spüren, wenn es sich weigert in die Schule zu gehen, wenn es sich weigert, "die ganze Wahrheit" (Muschg, S. 270, siehe oben) der Erwachsenen zu akzeptieren, wenn es sich weigert, sich zum Denken und zum logischem Schlußfolgern zwingen zu lassen.

Hier bekommt das Kind deutlich zu spüren, daß es nicht alle Macht in der Welt hat, daß es welche gibt, die stärker sind als es, daß nicht alles einfach nur so funktioniert, wie es sich das vorstellt.

Zu diesem Thema gibt es auch ein schönes Lied von Supertramp, "The logical song":

When I was young, it seemed that life was so wonderful,
a miracle, oh it was beautiful, magical.
And all the birds in the trees, well they'd be singing so happily,
joyfully, playfully watching me.
But then they send me away to teach me how to be sensible,
logical, responsible, practical.
And they showed me a world where I could be so dependable,
clinical, intellectual, cynical.

There are times when all the world's asleep,
the questions run too deep
for such a simple man.
Won't you please, please tell me what we've learned
I know it sounds absurd
but please tell me who I am.

Now watch what you say or they'll be calling you a radical,
liberal, fanatical, criminal.
Won't you sign up your name, we'd like to feel you're
acceptable, respectable, presentable, a vegtable!

At night, when all the world's asleep,
the questions run so deep
for such a simple man.
Won't you please, please tell me what we've learned
I know it sounds absurd
but please tell me who I am.

(vom Album "Breakfast America", siehe Supertramp)

Ich denke dieses Lied beschreibt ziemlich genau, was das Kind dabei empfindet, wenn es dazu gezwungen wird, in die Schule zu gehen und zu lernen, sich vernünftig zu verhalten und brav und klug zu sein.

Ich denke, das ist der Zeitpunkt, wo das Kind vermehrt das Lügen lernt, weil seine eigene Wahrheit eine andere als die der Großen ist und die Großen die Wahrheit des Kindes nicht hören wollen. Das Kind lernt sich selbst zu verleugnen, um anderen, den Eltern und den Lehrern, gerecht zu werden.

Es kann sich gegen die starke Position der Eltern, von dessen Liebe es abhängig ist, wohl oft zunächst nicht wehren. Hier fängt das Kind an, sich selbst aufzugeben, wenn es nicht stark genug ist, dem Druck zu widerstehen. Hier fängt das Kind an, - im negativen Sinne - erwachsen zu werden.

Ein anderes Beispiel wäre die geschlechtspezifische Erziehung des Kindes. So geben meines Erachtens die Eltern ihrem Sohn oft durch bewußte und unbewußte Signale das Gefühl, daß Männer nie weinen, und daß auch er nie weinen darf.

Eine Tochter darf dann häufig kein aggressives Verhalten zeigen und sich nicht so streiten, wie Jungen sich streiten dürfen. Bestimmt gibt es dazu auch noch andere Beispiele, aber ich denke auch hieran sieht man schon, wie ein Kind seine Kindheit auch verlieren kann.

Ich denke, es gibt sowohl nicht vermeidbare, als auch vermeidbare Prozesse, die zum Verlust der Kindheit führen können.

Wenn man Kindheit als einen bestimmten Abschnitt in der Entwicklung des Menschen sieht, so muß man sich auch eingestehen, daß dieser Abschnitt irgendwann zu Ende ist, und der Mensch dann kein Kind mehr ist. Dann ist Kindheit etwas, was man einmal hat und nie wieder haben wird. Auch wenn man z.B. 20 Jahre alt wird, wird man dann nie wieder jünger sein können.

Eine solche Kindheit kann dann nur noch in unserer Erinnerung lebendig werden und wird uns dann wirklich schmerzlich als etwas Verlorenes bewußt. Aber sie kann lebendig werden, denn der Primärprozeß kann die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchlässig machen. Und so haben wir hier ein Hintertürchen offen, eine Pforte zur Kindheit sozusagen.

Zudem kann man Kindsein vielleicht auch als Lebenshaltung verstehen und sich dann öfter Dinge erlauben, die man auch als Kind getan hätte. Man kann sich fragen, wie man als Kind war und sich das bewahren. Man kann vielleicht auch als Erwachsener wie ein Kind leben, alle Gefühle zeigen, die man hat, weinen, wenn man weinen muß, spielen, wenn man spielen will usw.

Nur wird man da dann wahrscheinlich auch immer wieder auf Grenzen stoßen, und vielleicht den ein oder anderen Vorwurf ernten: "Du verhältst Dich ja wie ein Kind!" Und dennoch: vielleicht würde gerade derjenige, der den Vorwurf äußert, sich gerne gerade ebenso "kindlich" verhalten.

Insofern läßt sich die Frage meines Erachtens nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Vielleicht liegt die Antwort irgendwo in der Mitte. Die Kindheit als zeitlich abgegrenzte Entwicklungsphase - als Phase, in der die Welt immer eine Ganzheit war - geht vorüber, aber man kann auch danach immer noch Kind sein, wenigstens ab und zu.

Vielleicht ist die Antwort auch abhängig vom Individuum: Der eine gibt das Kindsein - seinen Ursprung und seine Wurzel - auf, der andere sagt sich eventuell: "Ich bin Kind, weil ich mich so wohl fühle. Aber ich bin ein erwachsenes, ein erfahreneres Kind."

4. Was bedeutet das für das Kind?

Wenn das Kind beim Erwachsenwerden seine Kindheit verliert, so verliert es meines Erachtens auch einen Teil von sich selbst, den es, zumindest solange es sich dessen nicht bewußt wird, nie mehr zurückholen kann.

Wie erlebt ein Kind es, wenn es z.B. die Sprache erlernt, wenn es zur Schule gehen muß? Was bedeutet es für seine Zukunft, wenn es seine Kindheit verliert, und was, wenn es sie sich bewahren kann?

Wenn ein Kind sich bestimmte Bedürfnisse nicht erfüllen darf, wird es sich vielleicht andere Ersatzbedürfnisse schaffen, die es dann zu befriedigen sucht. Nach dem Motto: Wenn ich das schon nicht darf, dann mache ich wenigstens, was ich darf.

Wenn ein Kind also z.B. nicht weinen darf, dann versucht es möglicherweise seine Traurigkeit zum Beispiel durch Aggressivität gegen andere Kinder loszuwerden. Das kann es aber nicht. Nur wenn es seine Traurigkeit in sich erlebt, was es aber nicht darf, dann wird es sie auch los. Erst nach dem Regen kann wieder die Sonne scheinen (siehe dazu auch Alice Miller).

Wenn ein Kind von Eltern zum Beispiel vernachlässigt wird, versucht es möglicherweise, sich die Wärme und Nähe, die ihm dann fehlt, aus dem Fernseher zu holen und ist leichtes Opfer für die Massenmedien.

Denn da die Medien das eigentliche Bedürfnis des Kindes nach Wärme und Nähe nicht erfüllen, wird es nicht zur Ruhe kommen, weiter oft fernsehschauen und sich dann vielleicht noch einen Gameboy kaufen lassen. Aber dazu im zweiten Teil dieser Hausarbeit von Stefan Brüning mehr.

Was aber geschieht, wenn ein Kind z.B. beim Erlernen der Sprache seine Ganzheit verliert, und sich dann nach der wortlosen Welt, die eine Ganzheit war, zurücksehnt? Wenn es sich in einer durch allerlei Widersprüche zerrissenen Welt, einem Mosaikspiel, in dem einige Teile fehlen, andere hingegen zu viel sind, nicht wohl fühlt?

Es wird wahrscheinlich versuchen, die zerrissene Welt wieder "zusammen zu kleben", aber merken, daß, wenn es wirklich mal erfolgreich war, die Welt dann doch wieder in ihre Einzelteile zerfällt, die nicht zueinander passen wollen. Es wird sich immer auf der Suche nach dieser Ganzheit - in Adolf Muschgs Parzivalerzählung z.B. durch den heiligen Gral oder die Einheit der drei Eier symbolisiert - befinden, sie aber nie für ewig finden, sie wird aufflackern in ihm und dann aber auch gleich wieder verblassen:

Doch in unbewachten Augenblicken, wenn ihr aus dem Rahmen gefallen seid, stieg sie wieder auf und wehte euch an, die ungesprochene Sprache der Kindheit: aus einem Duft wie Lindenblüte, dem Geschmack eines Brötchens, einem Schnitt auf den Handrücken. Das war schon einmal da gewesen, so wirklich da, wie es nur wortlos geschehen kann. (S. 270) [...]

Nun kehrt ihr, und Wir mit euch, immer wieder zum Schauplatz der Untat, den Wörtern zurück, um uns in ihnen wiederzufinden und neu zu verlieren. (S. 271)

Was das nun im konkreten Fall für das Kind bedeutet, hängt auch davon ab, wie es sich diesem Riß in der Welt, der nie mehr für lange zu kitten ist, stellt, ob es ihn ertragen kann oder nicht.

Und das ist, so denke ich, eine Frage des Urvertrauens: Wenn man darauf vertraut, daß die Welt einen Sinn hat und doch alles irgendwie zusammengehört, auch wenn es nicht immer so aussieht, dann kann man auch ertragen, daß es manchmal nicht so aussieht.

Wenn man die Ganzheit einmal in vollen Zügen erlebt und genossen hat, wird man auch sie nie mehr los. Und das ist die Voraussetzung für das Ertragen von Widersprüchen. Nur dann ist die Welt in ihrer Zerrissenheit eine ganze Welt. Und nur dann kann das Kind sich seine Kindheit, zumindest teilweise, bewahren.

Oder mit Identitätsbegriffen ausgedrückt: Nur wenn man sich einmal mit sich selbst eins gefühlt hat, wenn man sich, ohne Abstriche zu machen, mit sich selbst identifizieren konnte, wird man auch damit fertig werden können, daß man nicht immer mit sich selbst eins ist. Und nur dann ist man in der Lage, Identitätskrisen zu bewältigen, sich der verlorenen Ganzheit wieder anzunähern.

Darin liegt die große Bedeutung der Kindheit. Es ist notwendig, einmal ganz viel Ganzheit erlebt zu haben, um dann die Welt mitsamt ihren Widersprüchen ertragen zu können. Oder anders ausgedrückt: Es ist notwendig, einmal Kind gewesen zu sein, um erwachsen werden zu können, um als erwachsener, erfahrenerer Mensch der Welt gewachsen zu sein. Deshalb ist es ja auch so wichtig, ein Kind Kind sein zu lassen.

Wenn ein Mensch nie Kind gewesen ist, dann wird er als Erwachsener - hier im anderen Sinne als oben - anfällig sein für alle, die mit den Bedürfnissen des Menschen spielen, für alle die falsche Versprechungen machen, für alle, die selbst nie Kind gewesen sind, oder nie lange genug.

5. Die Kindheit wiederfinden

Die Kindheit wiederfinden - das Thema hat für all diejenigen Bedeutung, die, wenn sie ihrem Innersten nachspüren, das Gefühl haben, etwas verloren zu haben, und dieses Etwas vermissen. Aber kann man die Kindheit überhaupt wiederfinden?

Auch diese Frage kann man meines Erachtens nicht eindeutig beantworten. Die Kindheit als Entwicklungsphase wird so nie wieder auftreten, und auch den Sekundärprozeß und damit die Widersprüche wird man wohl nie wieder loswerden. Aber ich denke schon, daß man seine Wurzeln wiederfinden kann, wenn man sie verloren hat.

Ich denke auch, daß man einiges tun kann, wenn man bei sich feststellt, meine Eltern und die Gesellschaft haben mich aber auch nicht immer so richtig Kind sein lassen und ich war gezwungen meine Bedürfnisse öfter mal zu unterdrücken. Man kann hier dann durch Selbstanalyse wohl weit kommen. Wenn man lernt die eigenen Gefühle zuzulassen und auch die alten Gefühle nicht länger zu unterdrücken, kann man dem Kinde in sich - so denke ich - doch um Einiges näher kommen.

Ein anderer Weg ist, sich mehr Kreativität und Phantasie zu gönnen und die verborgenen Fähigkeiten in sich selbst wieder auszugraben. Leider geschieht dies heute meines Erachtens ziemlich selten. Und ich kann schon verstehen, warum Jugendliche die kahlen Betonwände unserer Städte mit Graffitis besprühen. Wo sonst sehen sie noch Raum, ihre Kreativität "zwanglos" auszuleben? Wo sonst haben sie noch welchen?

Oder man kann an die Orte, wo man als Kind gelebt hat, zurückkehren. Wieso sollte man als Fünfzigjähriger sich nicht auch ab und zu, oder auch öfter, nicht immer, aber immer öfter, auf einen Spielplatz vergnügen oder an einem Strand eine Sandburg bauen?

Es kommt wirklich darauf an, daß man solche Wünsche sich selbst gegenüber auch erlaubt, wenn man sie verspürt. Wenn ich mir aber sage, als Erwachsener habe ich mich nicht so "kindisch" zu verhalten, dann werde ich mich als Kind wohl wirklich nie wieder sehen. Da liegt wohl auch der Unterschied zwischen kindlich und kindisch. Das Verhalten eines Kindes ist kindlich und wird zu kindischem Verhalten, wenn man es negativ sieht.

Die Kindheit wiederfinden, das kann eine Aufgabe für ein ganzes Leben sein. Immer wieder wird man neue Aspekte seines Selbst entdecken können, auch wenn man denkt, das wäre jetzt schon alles gewesen.

Dabei sollte man sich aber nicht nur auf seine Vergangenheit konzentrieren und sich vorgaukeln, die Kindheit sei das Paradies, daß nie wieder zurückkehren wird. Denn das stimmt so möglicherweise auch nicht ganz. Aus der Vergangenheit heraus geht die Dimension der Zukunft hervor, aber nur, wenn man nicht in der Vergangenheit hängen bleibt, in dem Gefühl, daß die Gegenwart niemals so gut sein könne, wie die Vergangenheit vielleicht war.

Auch sollte man den Sekundärprozeß nicht nur als etwas Negatives, die Ganzheit Zerstörendes sehen. Vielleicht ist es ja auch ganz gut, Widersprüche erkennen zu können. Und ich bin mir sicher, daß ich ohne Sekundärprozeß diese Hausarbeit nicht schreiben könnte, aber auch ohne den Primärprozeß nicht. Aber wäre es vielleicht gut, wenn ich diese Hausarbeit nicht hätte schreiben können, wenn ich sie nicht hätte schreiben brauchen?

Und: wenn der Sekundärprozeß nicht wäre, welchen Sinn hätte dann der Primärprozeß eigentlich? Wenn der Primärprozeß die Aufgabe hat, Zerrissenes zu einer Ganzheit zusammenzufügen, dann brauchen wir auch den Sekundärprozeß, um das zusammenzufügende Zerrissene überhaupt erkennen zu können. Denn sonst wird der Primärprozeß an sich auch irgendwann überflüssig. Wie kann man sich auf die Ganzheit freuen, wenn man sie immer hat?

6. Stellungnahme

Ich konnte meines Erachtens meine Frage, ob die Kindheit verloren geht, nicht zufriedenstellend für mich lösen. Ich bin einer Antwort näher gekommen, aber mehr konnte ich meines Erachtens mit dieser einen Hausarbeit auch nicht erreichen.

Aber dennoch bin ich nicht wirklich unzufrieden. Auch wenn die Antwort auf obige Frage nicht so eindeutig sein mag, wie ich sie mir gewünscht hätte, auch wenn ich nicht sagen kann, die Kindheit ist mir voll und ganz erhalten geblieben, ohne mich selbst zu belügen, auch dann bin ich der Welt der Kindheit meines Erachtens ein ganzes Stück näher gekommen, auch dann bin ich mir ein ganzes Stück näher gekommen.

Aber gleichzeitig wird mir bewußt, daß ich die Kindheit nicht mehr nur als Paradies ansehe, das verlorengegangen ist. Auch wenn ich mir meiner magischen und mystischen Seite bewußt bin, so habe ich mir wohl selbst die Kindheit im Laufe der Beschäftigung mit dem Thema dieser Hausarbeit ein wenig entmystifiziert. Sie hat einen Teil ihres Zaubers für mich verloren und ist aber für mich immer noch zauberhaft.

Als ich klein war, habe ich öfter mit der Natur, mit den Bäumen, den Flüssen um mich herum geredet. Einmal sprach ich zu einem Fluß: "Hey, Fluß, warum fließt Du denn so schnell? Laß Dir doch Zeit, Wasser fließ nicht so schnell weg." Ein wenig, vielleicht auch etwas mehr, von diesem magischen Weltverständnis habe ich mir bewahrt.

Es hilft mir in schwierigen Zeiten an die Zukunft zu glauben. In Zeiten, in denen ich das Gefühl habe, die Welt will nichts mit mir zu tun haben und würde mich am liebsten in ein gestaltloses Nichts hineinstoßen, bewahrt mich mein Urvertrauen vor dem Vakuum.

Während des Schreibens dieser Hausarbeit und also auch jetzt noch während des Schreibens dieser Stellungnahme, mache ich selbst gerade eine Identitätskrise durch und durchlebe eine "Beziehungskiste".

Die Beschäftigung mit der Kindheit allgemein und meiner Kindheit im besonderen hilft mir diese Krise, dessen Ausgang mir jetzt noch unklar ist, zu bewältigen, Zuversicht zu schöpfen.

Da sehe ich auch, warum es für mich so wichtig ist, mir meine Wurzeln, mir meine Kindheit wenigstens soweit möglich zu erhalten. Da sehe ich auch, warum es für viele andere ebenso wichtig sein kann, dies zu tun.

Dieses Thema ist für mich noch nicht zu Ende, und wird es womöglich nie sein. Meine Hausarbeit dazu ist ein unvollendetes Fragment, ein Spiegel meiner jetzigen Sichtweise.

Ich verspüre in mir das Bedürfnis einer weitergehenden Beschäftigung mit dem Verlust der Kindheit und wichtiger noch mit dem Wiederfinden derselben.

Meine jetzige Darstellung ist in einem Aspekt wie die Welt, die ich wahrnehme. Sie ist nicht ganz und in sich abgeschlossen, sie ist rissig und weckt in mir das Bedürfnis, sie "ganz zu machen".

Aber sie ist gleichzeitig auch etwas Ganzes, eine zusammenhängende Darstellung, die sinnvoll ist. Auch in diesem Aspekt gleicht sie der Welt.

Möglicherweise ist alles ganz und zerissen, je nachdem mit welchen Augen man es betrachtet.

7. Noch ein paar Anmerkungen

In einer anderen Hausarbeit habe ich - laut einem anderen Professor - den Fehler gemacht, schon im Analyseteil zu viel Stellungnahme zu bringen. Ich hoffe, daß ich das diesmal besser vermeiden konnte.

Und selbst wenn nicht - ich denke doch das sich das Wiedergebene ganz gut von meiner eigenen Sichtweise unterscheiden läßt. Und vielleicht ist es ja kein Fehler auch ab und zu im Analyseteil einen plötzlichen Eindruck, einen eigenen Gedanken einzubringen, wenn dies dann auch als etwas Eigenes ersichtlich ist.

Die strikte Trennung zwischen Analyse, Verarbeitung und Bewertung ist möglicherweise so strikt gar nicht möglich. Der Mensch ist nicht dreigeteilt und so vertrete ich auch nur eine weniger strenge Trennung zwischen Analyse, Verarbeitung und Bewertung.

Die Wissenschaft kann nicht nur rational, logisch schlußfolgernd sein, denn dann ist sie zu erwachsen, gerade wenn es um das Kind geht. Aber ich denke schon, es ist wichtig, sich bewußt zu machen, wo sie rational ist und wo emotionale Elemente einfließen.

Insoweit sehe ich obigen Einwand als gerechtfertigt an und hoffe, daß ich diesmal Stellungnahme von Analyse besser trennen konnte.

8. Danksagung

Ich möchte mich hier nur kurz bei Beata Kossa bedanken, die einen Teil meiner Hausarbeit "probegelesen" hat.

Mein Dank gilt auch Klaas Hermanns, der mir im Zusammenhang mit der Registrierung eines Sharewarekomputerprogramms den Text von "The Logical Song" von Supertramp besorgte.

9. Ein paar Gedichte von mir

Anbei noch ein paar Gedichte, die ich für ein pädagogisches Forum meiner Schule schrieb und dann auch bei der Abi-Abschlußfeier vortrug. Ich denke, die Gedichte haben was mit dem Thema zu tun und können zeigen, wie man in der Schule in die Gefahr geraten kann, seine Kindheit zu verlieren.

Außerdem - und das will ich nicht leugnen - gebe ich die Gedichte ganz gerne weiter.

Schule kann so schön sein - zwischen Kritik und Anpassung

Literatur


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